Schon wieder Marathon? Und warum ausgerechnet 42195 Meter? Weil der Marathon, der 1908 in London stattfand, verlängert wurde, damit die Läufer an der Königsloge vorbeirennen konnten. Ja, wirklich!
Schon vor Jahren habe ich bestellt, dass ich mit 95 Jahren im Ziel meines dann letzten Marathons möglichst sozialkompatibel meinen Körper verlassen werde.
Außerdem ist das mein Beitrag zur Expertinnen-Blogreihe im Rahmen des wunderbaren Schweizer Projekts „Bevor ich sterbe…“. Diese Blogreihe wurde von meiner Kollegin Tamara Scherer ins Leben gerufen und ich bin sehr stolz und froh, dass ich dabei sein darf.
Hier ist die Geschichte meines letzten Marathons – und meiner Message an mein jüngeres Ich
Es ist der letzte Sonntag im Juni 2059. Heute werde ich meinem letzten Marathon laufen und damit Harriette Thompsons Weltrekord von 2015 als älteste Finisherin einstellen.
Vorher muss ich aber erst einmal loslaufen.
Kurz vor 9.00 Uhr. In ein paar Minuten ist Start. Ich nutze die Zeit, meinem 37 Jahre jüngeren Ich ein paar aufmunternde Worte zu schicken: „Siehst du, wie weit wir gekommen sind? Deine Bestellung hat funktioniert – entgegen aller Prognosen!“
Mir laufen die Tränen. Ich stehe tatsächlich im Starterfeld meines letzten Marathons. Ich bin 95 Jahre alt und wahrscheinlich völlig verrückt.
Der Starter zählt von 10 runter. Wir Läuferinnen auch. Ich muss immer noch weinen. Nach der „1“ ruft er „Ihr seid Helden!“ auf Dänisch. Das finde ich auch.
Kilometer 3 – Deine Trauer wird milder mit der Zeit
Irgendwie ist es anstrengender als früher… Ich bin ziemlich weit hinten. Aber aus jahrzehntelanger Marathonerfahrung weiß ich, dass die Letzten mindestens so viel Aufmerksamkeit bekommen wie die Ersten. Und wenn sie dann noch im Ziel tot umfallen…
Ich muss daran denken, wie mein Mann die zwei Versuche, den North-Sea-Beach-Marathon zu laufen, unterstützt hat. Beim ersten Mal hatte ich nach 33 Kilometern keine Lust mehr. Glücklicherweise hatte er sein Handy eingeschaltet und kam mich abholen. Und ertrug für den Rest des Tages tapfer meine schlechte Laune.
Beim zweiten Versuch habe ich ihn am 21-Kilometer-Wendepunkt gebeten, auf gar keinen Fall ans Telefon zu gehen, wenn er meine Nummer im Display sieht, bevor ich die Ziellinie überquert habe. Auch das hat er kommentarlos hingenommen. Mein Mann war ziemlich gut darin, keine Kommentare abzugeben.
Mir laufen schon wieder die Tränen. Ob ich ihn bald wiedersehe? Ich muss wieder an mein sehr viel jüngeres Ich denken.
„Liebe Sabine, du bist jetzt 58 Jahre alt und trauerst seit fast einem Jahr um Deinen Liebsten. Diese Trauer wird dich nicht mehr verlassen, auch wenn sie mit den Jahren milder wird. Ich denke, das ahnst du schon. Aber du bist stark. Du wirst es gut bis hierher schaffen.“
Kilometer 10 – Dein Geschenk zum 60. Geburtstag
Ich bin in Gedanken bei meinem 60. Geburtstag. Den ich mit einem weiteren Marathon in meiner Sammlung gefeiert habe, um danach zu meinen Hunden zurückzukehren, die im frisch erworbenen Häuschen auf mich warteten.
„Ja, Sabine, auch das hast du geschafft – obwohl du dir lange Zeit nicht vorstellen konntest, dass dieser Wunsch sich erfüllen wird. Nun, du hast hart dafür gearbeitet. Und trotzdem nie deine große Freude an verloren. Warum auch? Du durftest deinem Seelenauftrag nachgehen!“
Kilometer 15 – Bestseller und Kabarett
Die Nordsee zeigt sich von ihrer schönsten Seite. Nach anfänglichem Morgennebel werden wir jetzt auch von der Sonne gewärmt.
Meine Füße tun weh. Ich ignoriere das genauso wie die Rückenschmerzen, die ich immer hatte, wenn ich zu lange am Schreibtisch saß. Aber wenn ich vor der Entscheidung „Schreiben oder Stretching“ stand und im Flow war, musste das Stretching eben zurückstehen. Wer weiß – vielleicht wären die Bücher, die ich während der letzten 37 Jahre geschrieben habe, sonst als Dateileichen geendet?
„Mein liebes jüngeres Ich, falls du mich hören kannst: Ja, du wirst deine Bestseller schreiben! Du wirst gemeinsam mit Thorsten Sträter Kabarett machen! Und du wirst diejenige sein, der es gelungen ist, Menschen zum Lachen zu bringen, obwohl deine Themen ‚Abschied, Tod und Trauer‘ sind! Mach weiter, vertraue auf deine höhere Macht und auf deine Sehnsucht. Du wirst es schaffen. Du wirst genau das Leben führen, für das du kurz nach deinem 58. Geburtstag das Drehbuch geschrieben hast! Ich muss das wissen, denn ich schaue heute auf dieses Leben zurück.“
Kilometer 21 – Keine Angst vor dem Tod
Der Wendepunkt: Noch einmal die gleiche Strecke zurück… Hier hat beim ersten und zweiten North-Sea-Beach-Marathon mein Liebster zusammen mit unserer Labradorin Luna gestanden und mich gefilmt.
Noch ein paar Worte, bevor ich sogar zum Denken zu erschöpft bin: „Sabine, du wirst niemals Angst vor dem Tod haben. Wir wissen beide, dass der Tod ein Teil von uns ist. Genieße die nächsten 37 Jahre. Es werden die besten deines Lebens sein.“
Kilometer 22 bis 38: Genießen und nichts bereuen
Es heißt, dass ein Marathon wie ein ganzes Leben sei. Stimmt.
Bei mir geht es außerdem noch um das Ende meines Lebens. Deshalb lasse ich mir Zeit. Freue mich an der Nordsee, den Dünen und dem Sand unter meinen Füßen. Inzwischen ist mir richtig warum, ich krempele meine Ärmel hoch und schaue auf meine vielen Tattoos, die mit den Jahren ein wenig gewelkt sind – wie ich. Aber das hat mir nie etwas ausgemacht. Das Leben hat mich vor langer Zeit gelehrt, dass die Meinung anderer für mich nicht handlungsleitend sein sollte.
Nicht nur deshalb trage ich alles, was mir wichtig war und ist, mit Stolz und Freude auf der Haut.
Inzwischen schmerzen meine alten Knochen ein wenig. Das wundert mich nicht. Aber bald dürfen wir uns alle ausruhen.
Ein bisschen Angst habe ich doch. Was, wenn alles ganz anders ist als in meiner Vorstellung?
Ach, Quatsch. Alles in meinem Leben ist genauso eingetreten, wie ich es mir gewünscht habe – wenn ich mir etwas gewünscht habe.
Einzig mit dem Mann meines Lebens hatte ich nicht (mehr) gerechnet. Wir haben uns erst mit Ende vierzig gefunden, allerdings immer noch rechtzeitig, um mit- und aneinander zu wachsen. Unser größter Wunsch: mit 95 beim Sex am Strand gleichzeitig sterben.
Weil mein Liebster früher gegangen ist, musste ich umdisponieren. Und habe als Ersatz den Tod beim Zieleinlauf meines letzten Marathons „bestellt“. Warum also sollte ich nicht dahin kommen, wohin mich mein Herz haben will?
Kilometer 39 bis 42: Das Ziel ist in Sicht, aber irgendwie weit weg…
Kilometer 39: Das Ziel ist in Sicht, kommt aber irgendwie nicht näher. Zu den Schmerzen in den Füßen haben sich weitere hinzugesellt. Ich habe mittlerweile „Körper“… Außerdem hat jemand den Sand weicher und tiefer gemacht.
Kilometer 40: Mein innerer Schweinehund fragt vorsichtig nach, ob es denn so schlimm wäre, angesichts des Ziels jetzt schon zu gehen. Mein inneres Kampfschwein antwortet entrüstet: „Nix da. Gelaufen wird. Wie sieht das denn aus, wenn wir hier herumschlurfen wie ein paar Tattergreise?“
Ich habe kurz das Bedürfnis zu moderieren. Aber eigentlich kann ich die beiden auch reden lassen. Frage mich, wohin meine inneren Anteile gehen mögen, wenn ihre Wirtin nicht mehr da ist.
Kilometer 41: Das Ziel ist in Sicht, kommt aber immer noch nicht näher.
Inzwischen habe ich nicht einmal mehr die Energie, um wehmütig zu sein. Flüstere entkräftet: „Meine liebe Sabine, stell dich auf eine letzte große Anstrengung ein! Und hör nicht auf die inneren Stimmen, die vor dem Ziel aufgeben wollen! Lauf einfach weiter.“
Kilometer 42: Fast geschafft – Heldin zu uns!
Nur noch 195 Meter. Der Sand wird tiefer und tiefer, der Sprecher erzählt etwas von „Gut gelaufen!“ und scheint mich zu meinen, ich fühle mich älter als jemals zuvor. Wahrscheinlich befinde ich mich auf direktem Weg nach Walhalla, um dort bei Odin zu speisen. Ob die auf eine Wasser trinkende Veganerin eingerichtet sind? Egal. Wenn sie mir versprechen, dass ich nie wieder laufen muss, trinke ich notfalls auch Met und esse göttliche Hausmannskost.
Doch jetzt ist es Zeit für mein letztes Lächeln. Ich zeige der Strecke hinter mir den Mittelfinger, schleppe mich über die Ziellinie und genieße den Applaus. Wusste ich’s doch: Als Letzte und Älteste bekomme ich fast mehr als die Ersten.
„Sabine, wir sind eine Heldin!“ rufe ich und schließe müde meine Augen.
Jetzt kann ich meinen Liebsten sehen. Er lächelt auch.
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