Am 23. Dezember 2021 bin ich auf meinen Gehhilfen und mit Frieda zu einer kleinen Brücke in der Nähe gehumpelt. In meiner Tasche befanden sich mein einziges Feuerzeug und zwei große, von mir beschriebene A4-Bögen. Auf einem standen die Namen derjenigen, die ich gern im Jahr 2021 zurücklassen wollte – in und mit Frieden. Auf den anderen hatte ich alle Dinge, Träume, Wünsche, Erlebnisse geschrieben, die nicht mehr zu mir passten.
Achtung, Spoileralarm: Es hat nicht funktioniert.
Lies trotzdem weiter. Es gab noch einiges mehr, was nicht so gut gelaufen ist (teilweise im wahrsten Sinne des Wortes).
Groll loslassen funktioniert nicht mit geballten Fäusten
Mein Groll begleitet mich nicht erst seit Anfang Dezember getreulich auf vielen meiner Wege. Immer wieder vollführe ich alle möglichen Rituale, um ihn und die Menschen, die ihn in mir ausgelöst haben, in Frieden zu entlassen – wohin auch immer. Darüber habe ich sogar im September in zweien meiner Briefe geschrieben. Und bin schon damals zu der Erkenntnis gekommen, dass Verzeihen ein schwieriges Geschäft ist.
Manche Erfahrungen müssen wir möglicherweise häufiger machen, bis sich das Ergebnis in unsere Zellen hineingekämpft hat. Da es bei mir offensichtlich noch nicht so weit ist, habe ich mich entschieden, vorerst mit meinem Groll weiterzuleben.
Was aber hat mich so ins Grollen gebracht? Erfüllte und unerfüllte Erwartungen. Abhängigkeit von fremden Einflüssen. Wünsche, die ich nicht aus eigener Kraft verwirklichen kann.
Fremde Einflüsse
Liebe Sabine, wir wünschen Dir ein frohes Weihnachtsfest, auch wenn es bestimmt nicht einfach sein wird, obwohl Du es in den letzten Jahren ja auch nur für Dich allein gefeiert hast. (…)
Eine „Weihnachtsnachricht“ via WhatsApp
Gelesen und verstanden habe ich: „Kann ja alles nicht so schlimm werden. Du hast ja vorher auch lieber allein gefeiert.“
Der Zettel mit diesen Namen drauf ist blöderweise erst nicht verbrannt und dann an einem Ast hängengeblieben.
Ich bin so müde, mir immer wieder zu sagen, dass meine Trauer eben meine Trauer ist. Dass niemand mir vorschreiben kann und darf, wie lange es dauert, wie intensiv mein Gefühl ist und worum ich weine. Dabei verlange ich gar nicht viel: Wenn jemand kein Mitgefühl für meine Traurigkeit aufbringt, ist das okay. Nicht okay ist es, meine Gefühle zu relativieren.
Das will ich nicht verzeihen. Und das kann ich gerade auch nicht in Frieden loslassen. Denn wenn es in Dir schreit und tobt und wütet, ist das nun einmal nichts Friedliches. Und hat trotzdem seine Berechtigung.
Unerfüllte Erwartungen
Natürlich kann ich etwas von meiner Umwelt erwarten: gesunden Menschenverstand, wertschätzenden Umgang mit dem Gegenüber, Offenheit, Ehrlichkeit, klare Kommunikation… Aber keine meiner Erwartungen hat einen Anspruch auf Erfüllung. Wenn mein Gegenüber sich entscheidet, nicht ehrlich, klar oder wertschätzend zu sein, habe ich darauf keinen Einfluss.
Trotzdem und bei aller Fähigkeit zur Selbstreflexion kann auch das zu Groll führen. Und den gilt es auszuhalten, wenn er sich nicht freiwillig von allein verzieht..
Und dann gilt es auch hier, in Frieden loszulassen oder die Zähne zusammenzubeißen. Letzteres ist nicht gut für den Zahnschmelz und führt zu allen möglichen Verspannungen…
Nicht selbst erfüllbare Wünsche
Jede Anfängerin in Wunscherfüllung weiß, dass ein nicht selbst erfüllbarer Wunsch zu Frustration führen wird. Sobald wir unser Glück von fremden Einflüssen abhängig machen, können wir eben nichts mehr machen. Klar, ich kann mir Frieden und Liebe auf der Welt wünschen. Aber die Welt wird wahrscheinlich zuviel mit Krieg, Zerstörung und Spaltung zu tun haben, um sich darum zu kümmern.
Größere Aussicht auf Erfüllung hätte dieser Wunsch: Ich möchte selbst Liebe und Frieden in die Welt tragen.
Aber jetzt gerade nicht. Jetzt bin ich grollig.
Traurigkeit kann zu Kreativität führen
Im Dezember habe ich noch zwei Interviews zum Thema „Abschied und Tod“ mit zwei Wienerinnen geführt: Mit Uli Pauer, Minimalismusexpertin und Aufräumcoach und Veronika Stix, Zauberfrau und Seelenheilerin. So unterschiedlich wie diese beiden großartigen Frauen waren auch ihre Antworten.
Da ich schon einmal dabei war, habe ich mir meine Fragen gleich noch selbst beantwortet. Herausgekommen ist einmal mehr die Erkenntnis, dass der Tod nicht das Ende ist.
Und obwohl ich ja Weihnachten immer „lieber für mich allein gefeiert“ habe, wurde meine Traurigkeit trotzdem größer, je näher dieses Weihnachten rückte. Es ist nämlich ganz etwas anderes, während des Weihnachtsurlaubs lustige Nachrichten mit dem Ehemann zu tauschen und nach dem Fest der Liebe zu ihm zurückzukehren als die Tage ohne diese Aussicht zu verbringen.
Es sind die Kleinigkeiten, die fehlen: Das gemeinsame Augenrollen angesichts der Weihnachtsvorbereitungen anderer, das Kopfschütteln über die prall gefüllten Rollkoffer der zahlreich anrückenden Verwandtschaft, die unglaublich leckeren Plätzchen, die mein Mann gebacken hat, Lästern und Knutschen in der Kassenschlange…
Dagegen habe ich angeschrieben. Habe meiner Zielgruppe, der starken Frau in Trauer, einen Artikel gewidmet, mir Gedanken über mein Angebot für Dich gemacht, außerdem eine Menge Technik-Kung-Fu beim Überarbeiten meiner Homepage und Einrichten eines Terminkalenders.
Und obwohl ich vor lauter Groll und Trotz eigentlich jetzt erst recht keinen Jahresrückblick 2021 schreiben wollte, habe ich auf den letzten Drücker doch noch einen für meine Verhältnisse sehr kurzen Artikel über mein Jahr 2021 verfasst – und bin damit auf Platz 245 der Jahresrückblick-Blogparade von Judith Sympatexterin Peters gelandet. Dabeisein ist eben doch alles… 😉
… oder einem schönen Fotoshooting
Außerdem war Kreativität gefragt bei meinem Fotoshooting mit Sabine Prilop auf dem Göttinger Stadtfriedhof und drum herum. Bei leichtem Nieselregen und frischen einstelligen Temperaturen lehnte ich mich im leichten Wollpullover an Bäume oder Bänke, machte (fast schon traditionell) die Tänzerin und überzeugte das wegen der Warterei im Auto etwas missmutige Frollein Frieda, ebenfalls mit mir zu posieren.
Der Bänderriss: Jetzt aber stillgehalten!
Im Jahr 2021 laufe ich ja „nur“ virtuell. Das heißt, ich laufe natürlich „in echt“, nehme aber nur noch an virtuellen Wettkämpfen teil. Einer davon war in diesem Jahr die Ultra Challenge 2021 der Virtual Runners Community. Am Dienstag, den 21. Dezember fehlten mir noch etwas mehr als 12 Kilometer. Zehn davon war ich gerade gerannt, als ich auf gefrorenem Boden umgeknickt und auf den umgeknickten Fuß gestürzt bin. Normalerweise gilt in so einem Fall die PECH-Regel: Pause, Eis, Compression, Hochlagern. Blöd nur, wenn die verunfallte Läuferin noch etwas mehr als drei Kilometer von zuhause, der Pause und dem Eis entfernt ist…
Ich machte aus der Not eine Tugend und beendete meine Challenge humpelnd. Mental unterstützt von Frollein Frieda und mit vielen Stopps, um den dicker werdenden Knöchel an irgendwelchen gefrorenen Gräsern zu kühlen.
Zuhause angekommen war zweierlei klar: Ich hatte die Kilometer beisammen. Und ich sollte mich schnellstmöglich im nächsten Krankenhaus einfinden. Die Diagnose: Außenbandriss, keine Fraktur, mindestens fünf Wochen Pause.
Glücklicherweise hatte ich noch Schweinereien im Haus und die üblichen Streamingdienste abonniert… 😉 Gelesen habe ich auch.
Das ist jetzt genau eine Woche her. Während der ich besonders froh über mein Single-Dasein war. Denn in solchen Situationen bin ich definitiv kein Geschenk für die Welt, sondern eher der Hauptgewinn beim Schrecklich-Wichteln.
Seit dem 1. Weihnachtstag bin ich wieder ohne Stützen unterwegs, gestern kam ich sehr zur Freude von Frieda erstmals wieder auf mehr als 15.000 Schritte pro Tag und die erste Laufeinheit für die Ultra Challenge 2022 ist für Ende Januar geplant. Wäre ja wohl gelacht, wenn ich mich von einem Erdloch ausbremsen ließe!
Ne, nicht mit mir!!!
Tschüss, Dezember 2021 – Willkommen 2022!
Falls Du die Erfahrung von Verlust und Trauer mit mir teilst: Silvester müssen wir noch hinter uns bringen, dann wird es wahrscheinlich milder. Bei Facebook habe ich eine private Gruppe gefunden: „Trauer – Du fehlst unendlich“. Mir tut es gut, dort täglich zu lesen. Es zeigt mir, dass ich nicht die Einzige bin, die traurig ist. Und es hilft mir in meiner eigenen Traurigkeit, für den einen oder anderen Post ein paar tröstende Worte zu finden.
Und egal, welche Abschiede uns im Jahr 2021 ge- und betroffen haben: Wir. Leben. Trotzdem!
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